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Wahrheit

(Aus dem Englischen übersetzt) Paul stand am Fenster des Zimmers über der Garage und blickte auf eine innere Bilderwelt hinab.  Frances lehnte an der Tür, ihr geschmeidiger Körper war in einen Bademantel gehüllt. Sie lächelte, und  in ihrem amüsierten Nachäffen lag etwas Schelmisches, als ob sie etwas Lustiges plante, um Paul zu  überraschen. Sie trat näher und legte langsam die Arme um seine mit einem Handtuch umhüllte Taille.  Er spürte ihre verschränkten Hände, die sich gegen sein Kreuz drückten, sie flüsterte etwas  Unverständliches, das Paul aus seinen Träumereien riss. „Was soll nun folgen?“ fragte sie. „Was kommt als Nächstes?“ „Ich weiß es nicht“, meinte Paul müde. Er war erschöpft. „Stell dir etwas vor, das uns beide einschließt“, schlug sie vor. Schweigen – abgesehen vom  Verkehrslärm der Autobahn. Sie schnaubte, rieb sich den Nasenrücken und sagte: „Du hast überhaupt keine Fantasie.“ Sie machte einen unbeholfenen Schritt zurück, als würde ...

Trost

        . "Wenn man keinen Kummer hat, dann braucht man auch keinen Trost", sagte Clara und sog  genießerisch an ihrer Zigarette, blies den Rauch seitlich aus dem Mund.  Sie blickte Paul triumphal an,  so als hätte sie etwas gesagt, das man nicht widerlegen konnte.  Auf ihren Lippen bebte der Trotz eines  Lächelns, das sich nicht komplett unterdrücken ließ.      Paul hob die Augenbrauen und erwiderte, "Trost braucht man immer wieder.  Braucht man ihn nicht  für sich selbst, dann braucht man ihn für andere.  Der Mensch ist auch das Wesen, das trösten kann".      "Ist das so"? fragte Clara.  "Nicht jeder Mensch kann getröstet werden.  Nicht jeder Mensch will  getröstet werden".      "Ist das deine endgültige Meinung?  Ich muss mich trösten."      Sie fragte ihn aber nicht, warum das so sein sollte.      Clara zuckte ihre Schulter und so...

Über menschliche Schönheit

 (Aus dem Englischen übersetzt) In den 1970er Jahren gab es einen Slogan, der von Selbstzweiflern übernommen wurde, die glaubten, ihnen fehle ein gewinnendes Äußeres – „Schönheit ist nur Haut tief“. Dieses Gefühl wurde von denen als Segen empfunden, die sich selbst als unscheinbar und unattraktiv betrachteten, und so gab ihnen diese Maxime Hoffnung, dass die schöneren Exemplare sie übernehmen würden, um ihre ästhetischen Vorstellungen zu überdenken. Doch viele Menschen können die irreführende Behauptung, die dieser scheinbar befreiende Slogan aufstellt, nicht durchdringen. Also: Ist menschliche Schönheit auf das Äußere einer Person beschränkt...? Zu Beginn des 19. Jahrhunderts formulierte Friedrich Schiller, ein deutscher Dichter und Dramatiker der romantischen Tradition, das Konzept der „schönen Seele“, die den Vertrauenswürdigen und Tugendhaften gehört. Hier erkennen wir die Schönheit des Charakters und des Verhaltens in Einheit. Und doch betonten frühere Generationen weiterhin d...

Nicht nur Grusel-Ort: Burg Frankenstein

(Aus dem Englischen übersetzt) Im Jahr 1818 forderte der englische Dichter Lord Byron seine Besucher am Genfer See heraus, eine Geschichte über das Übernatürliche zu schreiben. Mary Shelley hörte aufmerksam zu und stimmte zu, an dem Schreibwettbewerb teilzunehmen, denn im Jahr 1816 hatte ihre Stiefmutter, Mary Jane Clairmont, ihr erschreckendes Schauermärchen über ihren Besuch auf Burg Frankenstein erzählt, die sich auf einem bewaldeten Hügel etwa fünf Kilometer südlich von Darmstadt, Deutschland, befindet. (Ich kann die Burg von meinem Wohnort aus sehen.) Clairmont berichtete Mary Shelley von dem abscheulichsten Bewohner der Burg, einem exzentrischen Arzt namens Johann Conrad Dippel. Es wurde behauptet, dass Dippel unermüdlich versuchte, eine Kreatur aus Körperteilen, makellosem, jungfräulichem Blut und durch okkulte Riten zum Leben zu erwecken. Darüber hinaus soll Dippel in einem alchemistischen Labor innerhalb des Burggefängnisses versucht haben, Gold für den nahezu bankrotten Landg...

Der Brief des Sinnsuchenden

Wieder befinde ich mich in Gewahrsam meiner scheinbar  angeborenen Schwermut. Nein, ich  muss das korrigieren  – sie ist nicht angeboren, sie resultiert vielmehr aus  meinem  Unvermögen, mich damit abzufinden, das nicht  lebensbereichernde Wesentliche für mich  entdeckt zu  haben. So wie der Dichter Novalis auf der Suche nach  der mythischen blauen  Blume war, so begebe ich mich auf  die Suche nach dem undefinierbaren Etwas. Dieses Etwas ist aber nicht das Sinngebende. Wenn ich demnach also schon weiß, dass ich über einen  zufriedenstellenden Lebenssinn verfüge, dann bewegt sich dieses Etwas  außerhalb des  Rahmens des Sinngebenden. Ich habe nun,  in diesem Moment, die spontane, undurchdachte  Ahnung,  dass mir eine gelungene Definition des Etwas das  haltgebende Gerüst meines  Lebenssinns darstellt, eine  Art Fundament, der denn Sinn stabilisiert und gedeihen  lässt.     ...

Der Brief an Micòl Finzi-Contini

Micòl, Ich könnte Dir nun von meinen Stillständen und von meinem tastenden Voranschreiten erzählen; von  meinem Verwundet-werden und von meinem Heilen, das beides aufrichtend meinen Geist geprägt hat.  Aber meine Existenz ist ohne irgendwelchen herausragenden Belang, als dass ich Dir detailliert aus den  verblassenden Versen meines geborgten Daseins erzählen möchte. Und dennoch will ich Dir auf diesem  Wege einige Worte über mich, über Dich und auch über andere zukommen lassen.     Du willst erfahren, ob ich Lebensfreude empfinde?  Hat denn das Leben an mir Freude – wer außer  Dir will das wissen?  Aber: solange die Freude in dieser brüchigen Welt bestehen bleibt, solange lohnt  es sich auch, sie sich für das eigene Leben herbei zu wünschen, sie auch anderen Menschen zu gönnen,  wenn denn diese Menschen dadurch etwas mehr Trost und Herrlichkeit in ihrem Leben erfahren.      Du denkst in etwa wie ich, wenn Du mich mit ...

Der Brief an Susette Gontard

Susette, Dir ist sicherlich aufgefallen, dass ich letztens der heiligen Messe beiwohnte, ich, der ich doch lieber  im Verborgenen bete, als dass ich mich unter Wölfe im Schafspelz begebe. Ich weiß, dass du stets  bereitwillig das Gute im Menschen erblicken und verkünden möchtest. Dennoch, Herzensgute,,  wirst auch du erkennen müssen, dass eine beachtliche Schar der Kirchgänger fromm scheinen will –  nach den Gebeten verwandeln sich diese Möchtegern-Heiligen oftmals in gefallene Engel, denen das  Prinzip der Aufrichtigkeit des Vergessens würdig ist.      Ich war also dazu bereit, gegen meine Überzeugung zu handeln und fand mich in der Kirche ein, nicht weil ich meine Meinung über die „Pharisäer“ revidieren wollte, sondern weil ich einer  Anhängerin  dieser Zunft ermahnen wollte. Einst hatte ich dieser Frau ein derart großes Interesse an  ihrer Person  dargebracht, dass sich Gerüchte bildeten, und man zu wissen meinte, ich sei...