Der Brief des Sinnsuchenden
Wieder befinde ich mich in Gewahrsam meiner scheinbar angeborenen Schwermut. Nein, ich
muss das korrigieren – sie ist nicht angeboren, sie resultiert vielmehr aus meinem
Unvermögen, mich damit abzufinden, das nicht lebensbereichernde Wesentliche für mich
entdeckt zu haben. So wie der Dichter Novalis auf der Suche nach der mythischen blauen
Blume war, so begebe ich mich auf die Suche nach dem undefinierbaren Etwas. Dieses Etwas
ist aber nicht das Sinngebende. Wenn ich demnach also schon weiß, dass ich über einenzufriedenstellenden Lebenssinn verfüge, dann bewegt sich dieses Etwas außerhalb des
Rahmens des Sinngebenden. Ich habe nun, in diesem Moment, die spontane, undurchdachte
Ahnung, dass mir eine gelungene Definition des Etwas das haltgebende Gerüst meines
Lebenssinns darstellt, eine Art Fundament, der denn Sinn stabilisiert und gedeihen lässt.
Du und ich hatten Ähnliches bereits in deiner Wohnung besprochen, in den
Stunden und Augenblicken vor jener seltsamen Episode, die dich womöglich etwas an
meinem Verstand hat zweifeln lassen. Ich hoffe doch, die Erinnerung wird dir nicht
unangenehm sein: Ich hatte dir meine Vermutung anvertraut, dass es wahrscheinlich der Sinn
des Lebens sei, dem Leben einen Sinn zu geben, worauf du von mir wissen wolltest, ob ich
denn meinem Leben einen mir erfüllenden Sinn gegeben hätte. Daraufhin starrte ich dich
derart entgeistert an, als wäre ich Zeuge der Geburt der Aphrodite aus dem Meerschaum. (Du
weißt wie sehr mir Botticellis bildliche Darstellung gefällt). Du nahmst mich dann an die Hand
und führtest mich hinaus in die von Sternen geschmückte Nacht, während ich wie benommen
mehrmals flüsterte, „Ich habe die Gewissheit verloren.“ Dies also meine Reaktion auf die
Sinnfrage. Aber es gelang dir dann doch, mich von dem Gedanken zu lösen,
Bald werde ich wieder bei dir sein, ich wünsche so sehr, ich könne dieses von mir
desperat ersehnte „bald“ in ein „jetzt“ verwandeln, aber auch ich bin an Zeit und
Raum gebunden. Bis wir uns wieder sehen, werde ich versuchen, uns beiden eine klare,
gelungene Definition des scheinbar undefinierbaren Etwas zu erstellen.
D.
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