Der Brief an Micòl Finzi-Contini
Micòl,
Ich könnte Dir nun von meinen Stillständen und von meinem tastenden Voranschreiten erzählen; von
meinem Verwundet-werden und von meinem Heilen, das beides aufrichtend meinen Geist geprägt hat.
Aber meine Existenz ist ohne irgendwelchen herausragenden Belang, als dass ich Dir detailliert aus den
verblassenden Versen meines geborgten Daseins erzählen möchte. Und dennoch will ich Dir auf diesem
Wege einige Worte über mich, über Dich und auch über andere zukommen lassen.
Du willst erfahren, ob ich Lebensfreude empfinde? Hat denn das Leben an mir Freude – wer außer
Dir will das wissen? Aber: solange die Freude in dieser brüchigen Welt bestehen bleibt, solange lohnt
es sich auch, sie sich für das eigene Leben herbei zu wünschen, sie auch anderen Menschen zu gönnen,
wenn denn diese Menschen dadurch etwas mehr Trost und Herrlichkeit in ihrem Leben erfahren.
Du denkst in etwa wie ich, wenn Du mich mit Deinen Blicken an mein Dir gewidmetes Gedicht
erinnerst:
Versuche nie, dass Glück eines anderen zu zerstören!
Gesät wurde es ihm von einem launischen Schicksal,
und er musste stets des Ackers steinigen Boden pflügen,
um Augenblicke der Seligkeit zu ernten.
Und bist Du erhaben, wünsche ihm Gutes...
Von Dir hatte ich eine bestimmte Vorstellung. Ich wage dennoch nicht, Dir von Angesicht zu
Angesicht zu sagen, dass Du für mich eine Vorstellung des Vollkommenen warst. Wie kann ich‘s denn
widerspruchsfrei behaupten, wo ich doch seit langer Zeit mit dem Begriff der Vollkommenheit hadere?
Ich trachtete nach der Begegnung mit dem Ideal - wenn’s mir denn begegnen sollte. Wie denn auch,
wie denn...? Aber dennoch müsste ich, der ich ein Mensch bin, doch auch Ahnung davon haben, was
denn das Vollkommene sei, da ich, eben dieser Mensch, diesen Begriff in seinen Gedanken und in
seiner Sprache vorfindet?
So scheint mir, dass ausschließlich das Ideale vollkommen ist. Aber da wir Menschen – zumindest
ich nicht – keine definierbare Vorstellung von der Beschaffenheit des Vollkommenen haben, werden
wir nie wissen, aus welchen Eigenschaften das Vollkommene besteht. All dies ist doch jenseits unserer
Erkenntnis angesiedelt und daher unserem Verstand unzugänglich.
Ich kann also lediglich ahnen, nicht wissen. Ich kenne bedauerlicherweise meine Ungewissheit und
mein törichtes Tasten nach Antworten, die im Sog der gedachten und gestellten Fragen schwinden.
Töricht ist’s doch, weil ich Antworten auf unbeantwortbare Fragen will. Gewissheit!
Dennoch... Ich sagte: Dir ist es gegeben, mir in Deinem Menschsein als Vergleichsmaß mit dem
Vollkommenen zu wirken, will damit sagen: ich dachte damals - alles weniger als Du, Micòl., bist – all
das ist unvollkommen, auf Dauer unvollkommen...
Ciao Micòl, gehe Deinen Weg und ernte Glückseligkeit, dies mein Wunsch für Dich...
Alles Gute.
D.
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