Die Konsequenz


Als der Vater Hermann Kafka abends aus seinem Prager Kurzwarengeschäft nachhause kam, saß seine Familie wie gelähmt am Esszimmertisch und wartete auf das Donnerwetter mit dem sie seit einigen Tagen gerechnet hatte.  Tatsächlich dauerte es nur wenige Augenblicke, bevor sich  Hermann am Tisch thronend räusperte und auf seinen Sohn Franz blickend mit dem Finger dreimal auf die Tischdecke klopfend:   So nicht, so nicht“, sagte er kummervoll.  Einen momentlang bedeckte er mit den kräftigen Händen sein bullig aufgedunsenes Gesicht und seufzte den Seufzer des Untröstlichen.  Dann blickte  er auf, kopfnickend dem Sohn Franz zugewandt.

     „Die Verlobung mit Fräulein Wohryzeck machst du hinfällig.  Gleich morgen schreibst du ihr einen Abschiedsbrief“.

     Franz konnte dem eindringlichen Blick seines Vaters nicht standhalten, und wie die anderen am Tisch schaute er scheinbar gedankenverloren in den Suppenteller hinein. 

      Dann begann die altbekannte Litanei des Vaters:  das schwere Schuften für das Familienwohl, die unzähligen Sorgenstunden in Zusammenhang mit dem schwächlichen, kränkelnden Franz, der – und hier lachte er  hämisch auf – sein Erbe war, die Unartigkeit seiner Töchter.  Nur seine Frau Katja verschonte er mit  der Schmährede.  Sie saß am anderen Tischende, eine bereits gebrochene Frau, die es nicht wagte, ihrem Mann zu widersprechen. 

     Franz sagte in den Raum hinein, „Ich liebe Julie.“

     Hermann Kafka verzog sein Gesicht als sei er persönlich von Franz herausgefordert worden.

      „Liebe“?  flüsterte er heiser und blickte um sich.  „Was ist Liebe“?  Er tat verwundert, als hätte er  den Begriff zum ersten Mal gehört.

     Indessen löste Franz seinen Krawattenknoten auf und blies vor sich hin.  Ihm war heiß, wobei es nicht die sommerliche Schwüle war, die ihn wie fieberhaft marterte.

     Hermann sprach auf:  „Julie Wohryzek werde ich nicht in unsere Familie aufnehmen.  Franz“,  sagte er als sei er im Begriff einem Schwachsinnigen einen komplizierten Sachverhalt in einfachstem   Wortlaut zu schildern.  „Diese Person ist nicht standesgemäß.  Vergiss sie“, sagte er und warf seine  Serviette neben seinen Teller. 

     Franz: „Vater…“

    „Nichts ‚Vater‘“, erwiderte Hermann.  „Du tust, was ich dir sage.“  Er zeigte mit dem Finger auf ihn, jedem Worte folgte die Pantomime eines Fingerstichs.  „Denke daran, denke immer daran, dass du  es weitaus besser als manch anderer hast, und das du aufwärts strebst.  Lass‘ dich mit keinen Leuten ein, die dich hinunterziehen – hinunterziehen auf ihr bedauerliches Niveau.“   Fast schon muteten  diese Worte versöhnend an, so als würde in Franz doch etwas Vernunft stecken.

     Franz träumte vor sich hin, während seine Tischgefährten Suppe löffelten.  Er dachte daran, wie er im böhmischen Kurort Schelesen das erste Mal Julie begegnet war, Tage später seinem besten Freund Max einen Briefsatz über Julie mitteilte:  „: „Eine gewöhnliche und eine erstaunliche Erscheinung.  Verliebt in das  Kino, in Operetten und Lustspiele, in Puder und Schleier, Besitzerin einer unerschöpflichen und  unaufhaltbaren Menge der frechsten Jargonausdrücke, im ganzen sehr unwissend, mehr lustig als  traurig – so etwa ist sie.“

     Vater Hermann räusperte sich wieder, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, sein Kinn auf den gefalteten Hände ruhend.  Er blickte in die Runde und sagte Franz dann von der Seite anblickend, „Du wirst den Brief an Fräulein Wohryzek schreiben und ihr alsbald schicken“.

     Franz antwortete mit einem bedächtigen Kopfnicken.  Als er vom Tisch aufstand, blickte er seinen Vater streng an und sagte ihm, „Auch dir werde ich einen Brief schreiben“.

     Dieser Brief ging in die Literaturgeschichte ein…

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